Rückblick
In IGEL-Team Band 1 wurden Ingo, Georg, Enzo und Lisa in ihren Ferien am Bodensee auf die vielen Vermisstenanzeigen verschwundener Katzen aufmerksam. Kurzerhand gründeten sie das IGEL-Team und gingen der Sache als Hobbydetektive auf den Grund. Schließlich konnten sie den Fall lösen, die Täter überführen, und bekamen eine satte Belohnung. Ihr Talent als Detektive sprach sich schnell rum. Daher bekamen und bekommen sie immer wieder Anfragen verzweifelter Menschen, die sie in besonders rätselhaften Fällen um Hilfe bitten.

Über das Team:
Ingo, Georg und Lisa sind Geschwister. Der mollige Enzo ist ein italienischer Junge aus der Nachbarschaft. Weil Enzos Eltern eine Pizzeria betreiben, haben sie wenig Zeit für ihn. Daher verbringt er die meiste Zeit mit den drei Geschwistern der Familie Seifert.

Alle Kinder bringen ihre persönlichen Eigenschaften mit:
Ingo Seifert (12) ist sehr klug und ein geschickter Pfadfinder. Er will später einmal Naturwissenschaftler werden.
Georg Seifert (13) ist groß und stark. Er ist dreizehn Jahre jung, was man ihm nicht ansieht, denn aufgrund seiner Größe würde man ihn auf neunzehn Jahre schätzen. Er strebt es an, einmal Pilot zu werden.
Enzo Vangelista (12) ist etwas mollig und hat immer Hunger. Er kann italienisch und kann prima Tierstimmen nachahmen. Enzo möchte später einmal ein Gourmetrestaurant betreiben.
Lisa Seifert (11) ist kleiner, schlanker, sportlicher und flinker als die anderen Kinder. Leider versagt bei Aufregung ihre Stimme. Sie möchte mal Tierpflegerin oder Tierärztin werden.

Zusammen sind sie ein unschlagbares Team.
Das IGEL-Team.

Mehr über das IGEL-Team findest du unter:
http://igelteam.jimdo.com



Spuk in Schottland – Band 13
Wieder einmal bekommen Ingo, Georg, Enzo und Lisa als IGEL-Team den Auftrag, einen Spuk aufzuklären. Diesmal befindet sich das Spukschloss in Schottland, wo viele Spukgeschichten ihren Ursprung haben. Doch die Kinder sind auf Zack, glauben nicht an Geister und nehmen den Auftrag gerne an.
Sie freuen sich darauf, ihre Herbstferien in einem schottischen Schloss verbringen zu dürfen. Sie müssen ja einfach nur herausfinden, wer Interesse hat, Menschen aus dem Schloss zu vertreiben oder das Geschäft der Schlossherrin zu ruinieren. Doch es wird gruselig und die Aufklärung des Spuks entpuppt sich als ein schwieriges Unterfangen. Werden sie es diesmal schaffen?


Bemerkung
Die folgende Geschichte spielt in Schottland, wo die Landessprache englisch ist. Daher lassen sich englische Wörter nicht vermeiden. Da englische Wörter anders als deutsche Wörter ausgesprochen werden, folgt hier eine kleine Liste, welche die Aussprache erklärt:
Hauptstadt von Schottland Edinburgh (Aussprache: Edinnböhr)
Schlossherrin Misses Summer (Aussprache: Misses Sammer)
Fluss River Tweed (Aussprache: River Twied)
Schloss Castle (Aussprache: Kasl)
Englische Vokabeln: Summer=Sommer, River= Fluss, Castle=Schloss)
Okay. Bist du bereit für die Geschichte?
Dann geht’s los.

Viel Spaß wünscht dir deine Autorin:
Heike Noll



Ein toller Auftrag

Die elfjährige Lisa lag auf dem Bett, blätterte in einem Buch und verharrte.
»Schottland?«, wiederholte sie einen Teil der Worte, die ihr gerade zu Ohren gekommen waren.
Sie strich sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, sah ihren großen Bruder Georg an und konnte nicht glauben, was er ihr da gerade erzählt hatte.
Der dreizehnjährige Georg war groß im wahrsten Sinne des Wortes, denn er war mehr als einen Kopf größer als Lisa. Viele Leute hielten ihn oft für einen Erwachsenen und schätzten ihn auf 19 Jahre.
Lisa warf ihr Buch beiseite, sprang aus dem Bett und folgte Georg nach nebenan in Ingos Schlafzimmer. Ingo war Lisas zweiter Bruder. Er war nicht so groß wie Georg aber dafür unglaublich schlau und gebildet, was man mitunter an seiner Brille zu erkennen glaubte. Als Pfadfinder war der zwölfjährige Ingo sehr klug und geschickt, außerdem war er sehr belesen. Oft war er geistig abwesend, weil er an seinem E-Book-Reader oder an seinem Klapprechner saß, um sich neues Wissen anzueignen.
Lisa kam mit Georg in Ingos Schlafzimmer, wo Ingo und der schwarz gelockte Enzo bereits auf sie warteten. Enzo war ein italienischer Junge, der in der Nachbarschaft wohnte. Da seine Eltern eine eigene Pizzeria besaßen und daher wenig Zeit hatten, hielt sich der zwölfjährige Enzo die meiste Zeit bei den drei Geschwistern der Familie Seifert auf und fühlte sich bei ihnen wie zu Hause. Enzo war ein wenig mollig, wofür er von Lisa gerne geärgert wurde. Ebenso wurde er oft durch seine Heißhungerattacken zur Zielscheibe von Lisas üblen Scherzen, die sie aber nicht so meinte. Sie mochte Enzo auf ihre Art, aber sie liebte es leider auch, ihn zu ärgern, selbst wenn sie dafür oft eine Retourkutsche von ihm bekam.
Ingo saß an seinem Schreibtisch vor dem Klapprechner und grinste Lisa breit an. »Und? Was meinst du?«
»Georg sagte mir, wir wurden nach Schottland eingeladen?!«, war Lisa misstrauisch.
Ingo lehnte sich im Stuhl zurück. »So ist es. Wir wurden tatsächlich nach Schottland eingeladen, weil wir dort einen Spuk aufklären sollen.«
Lisa rümpfte ihre sommersprossige Nase. »Ist das wirklich in Schottland? Das glaube ich euch nicht. Warum sollten …?«
Das Summen des Druckers unterbrach ihre Worte, denn Ingo druckte das E-Mail aus.
Anschließend nahm er den Zettel aus dem Drucker und überreichte ihn Lisa. »Überzeug dich selbst. Hier steht es schwarz auf weiß.«
»Liebes IGEL-Team«, las Lisa vor. »Ich bin die Besitzerin Gräfin Dorothea Summer vom Schloss Floor Castle in der schottischen Stadt Kelso nahe der Hauptstadt Edinburgh. Seit einigen Monaten spukt es bei uns im Schloss, was der Grund dafür ist, dass wir immer weniger Gäste bekommen. Wenn wir euch den Flug und den Aufenthalt bezahlen, könnt ihr uns dann bitte helfen, den Spuk aufzuklären?«
Ingo schmunzelte. »Floor Castle bedeutet übrigens Etagen Schloss.«
Während Lisa noch alles wie ein schöner Traum vorkam, jubelten Georg und Enzo voller Vorfreude auf die bevorstehende Reise.
»Ist das nicht genial?«, freute sich Enzo. »Gerade rechtzeitig, wo die Herbstferien anfangen?!«
Lisa freute sich insgeheim, aber sie schaute Enzo kritisch an. »Du weißt hoffentlich, dass alle Jungs dort einen Rock tragen müssen?!«
»Das ist nicht wahr!«, erschrak Enzo und blickte prüfend an sich herunter.
»Doch«, neckte Lisa weiter. »Das ist doch Tradition in Schottland. Sag nur, du wusstest das nicht?!«
»Ich werde niemals einen Rock anziehen«, weigerte sich Enzo lautstark.
»Beruhige dich, Enzo«, mischte sich Ingo ein. »Schotten tragen ihren Rock, der übrigens Kilt genannt wird, nur zu besonderen Anlässen. Normal tragen sie Hosen so wie wir.«
Enzo wischte sich erleichtert mit der Hand über die Stirn. »Puh, ich dachte wirklich …«
»Glaubst du etwa, wir hätten Röcke angezogen?«, amüsierte sich Georg. »Lisa wollte dich doch nur ärgern.«
Lisa kicherte. »Da habe ich dich ganz schön drangekriegt. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen.«
Enzo warf Lisa einen giftigen Blick zu. »Na warte. Das werde ich dir bei Gelegenheit mit gleicher Münze heimzahlen.«
»Ich freue mich sehr darauf«, antwortete Lisa übermütig. »Hurra! Wir fahren nach Schottland«, platzte es aus ihr heraus, wobei sie durchs Zimmer tanzte.
»Nicht so voreilig«, bremste Georg. »Wie sollen wir Mama und Papa erklären, dass wir eingeladen wurden, die Herbstferien in Schottland zu verbringen?«
»Genau«, pflichtete Lisa bei. »Sie werden bestimmt nicht einverstanden sein, wenn wir ihnen erzählen, wir müssten einen Spuk in einem schottischen Schloss aufklären.«
Ingo kratzte sich nachdenklich am Kopf und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Lasst mich mal überlegen.« Er zog seine Brille ab und fing an, diese mit einem Papiertaschentuch zu säubern. »Ich hab's«, rief er. »Wir sagen einfach, wir hätten die Reise durch ein Preisausschreiben im Internet gewonnen.«
»Genial«, lobte Georg seinen Bruder. »Das werden sie uns auf jeden Fall glauben.«
»Du bist der Beste«, lobte auch Enzo.
»Mit dieser Aussage kommen wir auf jeden Fall durch«, freute sich Lisa. »Wenn wir die Reise gewonnen hätten, würden Mama und Papa sie uns nicht verbieten.«
»Meine Eltern werden mir das auch nicht abschlagen können«, gab Enzo freudestrahlend hinzu.
»Nun muss ich nur noch die Reise bei der Schlossherrin Misses Summer bestätigen, dann müssen wir auf unsere Flugtickets warten«, freute sich Ingo.
»Beeil dich, bevor sie es sich anders überlegt!«, drängte Lisa.
Ingo gehorchte und sendete der Schlossherrin die Zusage der Einladung sowie die genaue Postanschrift. Ungeduldig saßen die Kinderdetektive da und warteten auf die Antwort. Eine halbe Stunde später kam die Nachricht, dass die Flugtickets nach Bad Bergzabern unterwegs wären.
»Prima«, jubelte Lisa. »Sollen wir unsere Koffer packen?«
»Nein«, lehnte Georg ab. »Wenn Mama und Papa das sehen, würden sie sofort Verdacht schöpfen, dass an der Sache etwas faul ist. Wir müssen warten, bis die Tickets kommen.«
»So ist es«, war Ingo derselben Meinung. »Sobald die Tickets kommen, sollten wir die Überraschten spielen und so tun, als hätten wir niemals damit gerechnet, bei dem Preisausschreiben zu gewinnen.«
Lisa ließ sich verträumt auf den weißen Teppich zurückfallen und ruderte mit den Armen, als wenn sie einen Schnee-Engel in die hochflorigen Wollfasern zeichnen wollte. »Ich kann es nicht fassen. Wir verbringen die Herbstferien in Schottland in einem Schloss?!«
»Denk daran, dort spukt es«, erinnerte Enzo. »So toll werden die Ferien bestimmt nicht.«
»Quatsch. Das ist garantiert kein Spuk. Das ist bestimmt nur so ein Typ, der dieser Schlossherrin das Geschäft vermasseln will«, war Lisa überzeugt.
Georg nickte. »Ja. So wie damals auf Schloss Falkenstein.«
»Ich bin sicher, wir werden den Spuk bald aufgeklärt haben und können dann in Ruhe unsere Ferien in Schottland genießen«, meinte Ingo.
»Nur schade, dass Lisa nicht mitkommen kann«, neckte Enzo.
»Was? Warum kann ich nicht mitkommen?«, war Lisa erstaunt.
»Sie werden dich am Zoll schnappen, deinen Parfümflakon als Giftgas deklarieren und dich unverzüglich einsperren«, erklärte Enzo schmunzelnd.
Lisa roch prüfend an ihrem Handgelenk. »Du meinst, mein Parfüm, das ich mir letzte Woche kaufte? Das duftet sehr gut. Du hast ja keine Ahnung.«
Enzo schnüffelte und rümpfte die Nase. »Du meinst, weil du so klein und dünn bist und man dich leicht übersehen kann, soll man dich wenigstens riechen können?!«
»Ich finde es schade, dass du nicht mitkommen kannst, Enzo«, erwiderte Lisa verbissen.
Enzo hob amüsiert die schwarzen, buschigen Augenbrauen. »Warum kann ich deiner Meinung nach nicht mitkommen?«
»Du bist so schwer, dass du ein eigenes Flugzeug für dich benötigst. Das würde die Kosten der Schlossherrin und die Transportmöglichkeiten der Fluggesellschaft sprengen«, erwiderte Lisa schmunzelnd, worauf Enzo schallend lachte.
Ingo schüttelte den Kopf. »Wenn ihr so weitermacht, bleibt ihr beide zu Hause und ich fliege mit Georg alleine.«


*****


Aufbruchstimmung

Die nächsten vier Tage vergingen nur langsam. Draußen war es kalt und stürmisch. Das Team saß am Fenster in Ingos Zimmer und wartete auf die Post. Endlich kam der Postbote durch die Einfahrt und klingelte an der Tür. Ingo, Enzo, Georg und Lisa hatten brennend auf diesen Augenblick gewartet.
»Die Flugtickets«, riefen sie alle gleichzeitig und stürmten die Treppen hinunter, wo die Mutter bereits die Haustür geöffnet hatte.
Scheinheilig standen sie daneben, als die Mutter den Brief in Empfang nahm. Sie schloss die Tür und drehte sich um. »Ein Brief aus Schottland an dich adressiert, Ingo?!«
Gleichgültig zuckte Ingo mit den Schultern. »Schottland? Ach, wir hatten doch bei so einem Internetspiel mitgemacht. Wisst ihr noch?«, sagte Ingo gekünstelt und schaute Georg, Lisa und Enzo an, ohne dabei eine Miene zu verziehen.
Lisa kratzte sich am Kopf. »Ach ja, ich erinnere mich daran.«
»Na ja. Das ist bestimmt nur Werbung aufgrund dieses Preisausschreibens«, sagte Ingo laut und deutlich mit gesenktem Tonfall.
Die Kinder stellten sich im Kreis und öffneten den Brief.
»Hurra!«, rief Lisa. »Das ist unglaublich! Wir haben bei dem Internet-Preisausschreiben einen Aufenthalt in Schottland in einem Schloss gewonnen.«
»Wahnsinn«, rief Enzo. »Das ist ja eine große Überraschung.«
Die Mutter stand daneben und stemmte die Hände in die Hüften. »Wie bitte? Ihr habt einen Aufenthalt in einem Schloss in Schottland gewonnen? Gibt es da einen Haken?«
»Nein«, erwiderte Ingo. »Welchen Haken?«
»Zum Beispiel, dass ihr die Übernachtungen selbst bezahlen müsst«, meinte die Mutter.
»Nein, es wird alles bezahlt und es gibt keine versteckten Kosten«, erwähnte Georg.
Lisa wollte keine Zeit verlieren. »Dürfen wir nach Schottland fliegen, Mama?«
»Da kann ich wohl schlecht Nein sagen«, bemerkte Frau Seifert mit verkniffenem Mund.
»Hurra«, rief Lisa. »Wir verbringen unsere Herbstferien in Schottland in einem Schloss.«
»Ihr wollt wirklich nach Schottland?«, vergewisserte sich die Mutter.
Ingo stutzte. »Na klar. Warum nicht? Schottland ist doch ein schönes Land?«
»Ja, dort ist es aber kälter und regnerischer als hier«, erklärte Frau Seifert.
Lisa fasste Enzo bei den Händen und fing an, vor Freude mit ihm herumzutänzeln. »Das macht uns nichts, Mama. Wir sind im Schloss vor Wind, Regen und Kälte geschützt.«
Frau Seifert nickte. »Es ist eure Entscheidung. Ich nehme an, ihr werdet bereits morgen früh abreisen? Oder wann geht der Flug?«
Ingo wedelte mit den Flugtickets herum. »Ja, morgen früh um 10 Uhr ist der Abflug.«
Die Mutter klatschte in die Hände. »Na los, geht packen! Ich bereite euch Proviant zum Mitnehmen vor.«
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Enzo flitzte nach Hause, Georg, Ingo und Lisa eilten nach oben in ihre Zimmer, wo sie ihre Sachen zusammenpackten. Wenig später trafen sie sich samt Gepäck in Ingos Zimmer.
Ingo saß auf der Kante seines Schreibtisches und hielt einen Zettel in den Händen. »Habt ihr alles, Leute?«
»Hast du eine Reisepackliste ausgedruckt, damit wir nichts vergessen?«, informierte sich Georg.
»Klar«, meinte Ingo, setzte sich auf den Stuhl und las vor: »Seile, Ferngläser, Funkgeräte, Notizblock und Stifte, Schlossöffner-Set, Fingerabdruck-Set, MP3-Aufnahmegerät und E-Book-Reader.«
Georg, Enzo und Lisa nickten zu jedem Artikel, den Ingo vorlas.
»Du hast Lisas Parfüm nicht erwähnt«, scherzte Enzo.
»Halt die Klappe«, fauchte Lisa.
»Was ist mit Wanderschuhen und unserer Zeltausrüstung?«, hakte Georg nach.
»Zum Zelten ist es wohl zu kalt. Wanderschuhe sollten wir aber mitnehmen«, stimmte Ingo zu. »Ich habe das nicht notiert, weil ich dachte, es gehört zur Wäscheausstattung, die wir ohnehin alle mitnehmen.«
»Natürlich«, war Lisa Ingos Meinung. »Sonst hättest du auch Pullover und Hosen aufschreiben müssen.«
»Und Müsliriegel«, fügte Enzo hinzu. »Du hast vergessen, Müsliriegel aufzuschreiben, Ingo.«
»Ich habe das nicht vergessen«, stellte Ingo klar. »Müsliriegel gehören wie unsere Trinkflaschen und Thermoskannen zum Proviant.«
»Was ist mit dem Schlauchboot und den Schwimmwesten?«, wollte Lisa wissen.
»Gute Idee«, lobte Ingo. »Das Boot und die Schwimmwesten nehmen wir mit.«
»Wozu? Gibt es dort einen See?«, interessierte sich Enzo.
»Moment. Ich sehe mal nach.« Ingo legte den Zettel beiseite, drehte sich um und tippte in die Tasten seines Klapprechners.
Einen Moment danach schob er seine Brille gerade. »Das Schloss befindet sich in der Stadt Kelso, Kelso ist etwa 70 Kilometer von der Hauptstadt Edinburgh entfernt und liegt am River Tweet.«
»Die Stadt Kelso liegt am Fluss River Tweet?«, wiederholte Lisa.
Ingo lächelte. »Fluss River ist eine doppelte Bezeichnung, denn River heißt bereits Fluss.«
Lisa hielt sich lächelnd die Hände vor den Mund. »Ach ja, stimmt.«
»Dann nehmen wir das Schlauchboot mit«, meinte Georg. »Vielleicht können wir im Fluss herumpaddeln.«
Ingo schob erneut seine Brille zurecht. »Die schottische oder irische Namensvorsilbe Mac ist keltischen Ursprungs und bedeutet Sohn. NIC steht übrigens für Tochter.«
Enzo hob die Augenbrauen. »Dann bedeutet Mc Donalds, Sohn von Donald?«
»Exakt«, bestätigte Ingo. »MC ist die Abkürzung von Mac.«
Enzo zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wie auch immer, ich hoffe nur, dass das Essen dort schmeckt.«
»Das war mir klar«, rief Lisa, als wenn sie nur auf diese Bemerkung gewartet hätte. »Du kannst immer nur ans Essen denken.«
»Keine Sorge«, mischte sich Georg ein. »Mama versprach uns, sie wird Proviant herrichten.«
»Ja«, bestätigte Ingo lachend. »Und so wie ich sie kenne, wird sie uns viel zu viel mitgeben.«
»Zu viel? Das finde ich nicht«, widersprach Enzo.
Lisa winkte ab. »Natürlich nicht, Enzo.«
»Wie lange werden wir eigentlich auf Floor Castle bleiben?«, hakte Enzo nach.
Ingo öffnete die zweite Mail der Schlossherrin. »Misses Summer schrieb, wir können zwei Wochen bleiben, und wenn wir wollen, könnten wir jederzeit verlängern.«
»Hurra, das werden tolle Ferien«, rief Lisa voller Vorfreude, worauf auch die anderen jubelten.
Den Rest des Tages waren die Kinder sehr aufgeregt auf die bevorstehende Reise und wegen des mysteriösen Spuks, der sie im schottischen Schloss erwarten sollte. Der Vater erklärte sich beim Abendessen bereit, die Kinder am nächsten Morgen zum Flughafen zu bringen. Nach dem Essen gingen sie früh zu Bett, um für den nächsten Tag fit zu sein.


*****

Reise nach Schottland

Am Morgen darauf taumelten Lisa, Ingo und Georg die Treppen herab. Sie hatten vor Aufregung kaum geschlafen und konnten nur mit Mühe die Augen offenhalten. Wie jeden Morgen wartete Enzo bereits vor der Haustür, bis er zum Frühstück hereingelassen wurde. Man konnte ihn deutlich durch die Milchglasscheibe der Haustür erkennen. Wie immer hatte er auch an diesem Tag einen Bärenhunger.
Lisa öffnete die Tür und Enzo stürmte herein. »Guten Morgen, Freunde!«, grüßte er melodisch.
»Morgen«, murmelten Georg, Ingo und Lisa ihm zu.
»Was ist mit euch los? Freut ihr euch nicht auf Schottland?«, wunderte sich Enzo quietschfidel.
»Doch, wir waren so aufgeregt, dass wir heute Nacht kein Auge zubekommen hatten«, sprach Ingo für alle.
»Das kommt daher, weil ihr immer mit leeren Mägen zu Bett geht«, lachte Enzo. »Ich habe gestern Abend noch eine heiße Milch mit Honig getrunken und geschlafen wie ein Baby.«
»Ja«, bestätigte Ingo. »Wir hätten auch Milch mit Honig trinken sollen. In Honigmilch befindet sich nämlich Tryptophan. Das ist ein Eiweiß, welches das Beruhigungshormon Serotonin anregt. Außerdem sind viele Enzyme, Vitamine und entzündungshemmende Stoffe enthalten.«
»Und es schmeckt«, fügte Enzo hinzu.
»Was für dich die Hauptsache ist«, antwortete Lisa geringschätzig.
Die Kinder gingen zur Küche, wo die Mutter bereits das Frühstück vorbereitet hatte, und der Vater in die Zeitung vertieft am Tisch saß. »Guten Morgen, Kinder«, grüßten Vater und Mutter gleichzeitig.
»Morgen, Mama, morgen Papa«, grüßten Georg, Lisa und Ingo zurück.
»Einen schönen guten Morgen, Frau und Herr Seifert«, grüßte Enzo fröhlich.
Der Anblick des Körbchens mit den knusprig goldbraun gerösteten Toastscheiben, den verschiedenen Marmeladesorten und den Kannen mit Milch und heißer Schokolade, ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.
»Bald geht’s los. Es ist echt schön, dass ihr eine Reise nach Schottland gewonnen habt«, freute sich Herr Seifert für die Kinder.
»Ja, wir hatten echt Glück«, antwortete Ingo spontan.
Nach dem Frühstück wurden alle nach und nach munter. Zum Abschluss des Frühstücks tranken sie wie jeden Morgen ein großes Glas Orangensaft, um ausreichend Vitamine für den Tag zu tanken.
Die Mutter öffnete den Kühlschrank und packte verschiedene Lebensmittel auf den Tisch. »Ich habe euch etwas für die Reise vorbereitet, Kinder.«
Sie stellte Traubensaft, Orangensaft, Milch, Oliven, Essiggürkchen, Brotdosen mit Leberwurststullen und knallrote, glänzende Äpfel auf den Tisch, was von einem begeisterten Raunen begleitet wurde. Dann holte sie ein rechteckiges Päckchen in Alufolie aus dem Schrank und stellte es dazu. »Ich habe euch einen Zitronenkuchen gebacken.«
»Danke, Mama. Du bist die Beste«, rief Lisa, worauf die anderen ebenfalls jubelnd zustimmten.
Wie auf Kommando sprangen die Kinder vom Frühstückstisch auf und wuselten eine Weile durchs Haus, bis alles in den Rucksäcken verstaut war und das ganze Gepäck im Flur neben der Haustür bereitstand.
Herr Seifert ließ nicht lange auf sich warten, er fuhr das Auto aus der Garage und half beim Einladen des Reisegepäcks. Aufgeregt verabschiedeten sie sich von der Mutter, dann ging die Fahrt zum Flughafen nach Stuttgart los. Die Fahrt von 116 Kilometern zog sich 1,5, nicht enden wollende, Stunden hin. Der Herbststurm fegte goldbraune Blätter durch die Luft. Hin und wieder wurde das Auto von einer Windböe erfasst und schwankte beängstigend. Doch schließlich kamen sie unversehrt am Flughafen an.
Motiviert luden die Kinder ihre Sachen auf einen Gepäckwagen, verabschiedeten sich von Herrn Seifert und machten sich auf den Weg zur Gepäckabgabe.
Eine halbe Stunde später betraten sie das Flugzeug und setzten sich auf ihre Plätze. »Wie weit ist Schottland eigentlich?«, fragte Lisa und beobachtete die Reisenden, die nach ihren Sitzplätzen suchend durch den engen Gang liefen.
»Wir landen in Edinburgh, das sind etwa 1.507 Kilometer. Die Flugdauer beträgt 2 Stunden und 25 Minuten«, erklärte Ingo auf die Tickets schauend.
»Klasse«, freute sich Enzo. »In 2,5 Stunden sind wir in einem Schloss.«
»Nicht ganz«, korrigierte Ingo. »Von Edinburgh müssen wir erst noch 70 Kilometer bis Kelso fahren. Misses Summer schrieb, sie schickt jemand, der uns am Flughafen abholt.«
»Toll, da brauchen wir uns um nichts zu kümmern«, meinte Georg und rieb sich freudig die Hände.
Kurz danach erhob sich das Flugzeug endlich in die Lüfte. Durch den Wind schaukelte es beachtlich. Bei jeder Schaukelbewegung stöhnten einige der Passagiere angstvoll auf. Lisa, Enzo, Ingo und Georg hingegen blieben ruhig, weil sie vollstes Vertrauen zur Technik des Flugzeugs hatten. Enzo und Lisa kannten sich zwar nicht so gut aus, aber solange Ingo und Georg ruhig blieben, wussten sie, dass sie sich nicht sorgen mussten, weil sich die beiden Brüder mit der Technik sehr gut auskannten.
Als Lisa in Richtung Fenster sah, bemerkte sie Enzos schmerzverzerrtes Gesicht. Sie stupste ihn mit dem Ellenbogen an und drehte sich Ingo zu. »Da ist jemand am Verhungern, Ingo.«
Ingo reagierte sofort. Er nahm einen Müsliriegel aus dem Rucksack und reichte ihn Enzo. Alle sahen zu, wie Enzo den Riegel gierig verschlang.
»Iss nicht so viel, Enzo, sonst wirst du nachher zu schwer fürs Flugzeug«, scherzte Lisa.
Enzo lächelte: »Das gleicht sich aus, weil du zu leicht bist.«
Die Turbulenzen ließen bald nach. Die Kinder lehnten sich in ihre Sitze und genossen den Flug und das beruhigende Rauschen der Flugzeugdüsen. Nach etwa einer halben Stunde kamen die Flugbegleiterinnen mit Mahlzeiten und Getränken. Die Kinder nahmen Orangensaft. Zum Essen gab es Kartoffelbrei, Linsengemüse und eine kleine Bratwurst dazu.
Bei Lisa stellten sich beim Anblick der Speise die Nackenhaare auf. »Linsengemüse und Kartoffelpüree? So eine Zusammenstellung würden wir zu Hause im Traum nicht essen«, lästerte sie, worauf die Jungs zustimmend nickten.
Es schmeckte aber lange nicht so schlecht, wie es aussah. Zum Nachtisch gab es ein Stück Biskuit, das durchaus genießbar war. Nach dem Essen ruhten die Kinder erneut, während das Flugzeug über die hohen, schneeweißen Wolken schwebte und sie von Sekunde zu Sekunde Schottland ein Stück näherbrachte.
Bald erklang der Gong für die Anschnallzeichen und die Maschine befand sich im Sinkflug.
»Wir landen gleich«, meinte Ingo und sah aus dem Fenster, wo er eine grüne Landschaft erblickte, die sich von der Pfalz nicht unterschied.
Sogar die Häuser sahen aus wie in Deutschland. Sanft setzte das Flugzeug auf, was vom erleichterten Klatschen der Passagiere begleitet wurde. Als die Maschine am Terminal andockte, eilten die Kinder hinaus, liefen mit den Menschenmassen durch die Gänge und warteten am Band der Kofferausgabe auf ihr Gepäck, das kurz darauf kam.
»Jetzt nichts wie raus hier«, drängte Georg.
Sie verluden Koffer und Rucksäcke auf einen Gepäckwagen und fuhren zum Ausgang, der durch einen gläsernen Vorraum führte, in dem anscheinend Angehörige auf ihre Bekannten oder Verwandten warteten. Dazwischen standen Männer und Frauen, die Schilder mit Hotellogos und Schriftzügen in die Höhe hielten, um anscheinend ihre Reisegäste auf sich aufmerksam zu machen. Georg schob den Wagen ratternd über die hellbraunen Bodenfliesen zur gläsernen Ausgangstür. Die Kinder verließen das Flughafengebäude, worauf ihnen ein kühler Wind entgegenschlug. Der Himmel war bewölkt, die Straße und der Gehweg waren nass, was auf einen kürzlich vergangenen Regenguss hindeutete, dessen frischer Duft immer noch in der Luft lag.
»Ich fürchte, Mama hatte recht mit dem schlechten Wetter hier«, meinte Lisa und blickte sich suchend um. Zwischen den Taxis entdeckte sie eine schwarz glänzende Limousine, vor der ein älterer Herr im schwarzen Anzug, weißem Hemd und violetter Krawatte stand. Sein grau meliertes Haar war glatt nach hinten gekämmt und glänzte vor Gel.
»Das muss unser Chauffeur sein«, rief Lisa erfreut.
Der Mann sah die Kinder und lief auf sie zu. »Seid ihr das IGEL-Team?«, fragte er in einem recht affektierten Tonfall.
Ingo nickte. »Ja, wer fragt?«
»Ich bin Mister Carson, der Schlossdiener«, stellte sich der Mann vor und nahm Georg unaufgefordert den Gepäckwagen aus der Hand.
Während sich die Kinder auf die Rückbank des Luxuswagens setzten, verstaute Mister Carson das Gepäck im Kofferraum. Endlich stieg er ein und fuhr los.
»Bis Kelso sind es 70 Kilometer. Wir sind ungefähr eine Stunde unterwegs«, erklärte der Fahrer seinen Fahrgästen.
Enzo winkte ab. »Kein Problem. So können wir uns wenigstens in Ruhe die Landschaft ansehen. Wir sind nämlich das erste Mal in Schottland und bestimmt gibt es viel zu sehen.«
»In der Tat«, versicherte der Chauffeur. »Schottland wird euch gefallen.«
Die Limousine bewegte sich durch Schottlands Hauptstadt Edinburgh, wo viele Menschen unterwegs waren. Rote Doppeldeckerbusse schlängelten sich durch den dichten Stadtverkehr und auf dem Gehweg vor den Schaufenstern stand ein Mann im Schottenrock, der auf einem Dudelsack spielte.
Lisa drückte sich die Nase an der Autoscheibe platt. »Beeindruckend. Ein Schotte mit Rock und Dudelsack.«
Auch Georg musterte den Mann. »Er hat sogar ein Handtäschchen am Rock.«
»Das ist keine Handtasche«, stellte Ingo klar. »Das ist die Felltasche, die traditionell zum Kilt gehört.«
Mister Carson war so sehr auf den Stadtverkehr konzentriert, dass er anscheinend die Gespräche der Kinder nicht mitverfolgte. Nach einer Weile verließen sie die Stadt und fuhren über eine schmale Straße, die einem Feldweg ähnelte. Zu beiden Seiten lagen grün und braun schattierte Wiesen und Weiden. Die Luft, die durch das halb geöffnete Wagenfenster eindrang, war kühl und von einem herrlichen Duft von Gras und Moos erfüllt. Der graue Himmel war vollständig mit dunklen Wolken überzogen, was die Landschaft in ein diffuses Licht tauchte.
»Das sieht landschaftlich aus wie in Deutschland«, bemerkte Georg.
»Ihr täuscht euch, Kinder«, meldete sich der Schlossdiener zu Wort. »Das ist keine Weide, das ist eine Moorlandschaft.«
»Eine Moorlandschaft?«, staunte Lisa.
»Ja, hier gibt es tückische Hochmoore. Wenn ihr einen Ausflug plant, seid bitte vorsichtig«, bat Mister Carson.
Enzo schmunzelte. »Wir sind gute Schwimmer.«
»Ach ja? Unter den Moorleichen sind auch viele gute Schwimmer«, erwähnte Mister Carson makaber, worauf Lisa Gänsehaut bekam.
»Stimmt das?«, flüsterte Lisa Ingo zu. »Ist die Geschichte, dass das Moor Menschen in die Tiefe zieht, nicht ein Mythos von Gruselgeschichten?«
»Doch, es ist ein Mythos«, bestätigte Ingo. »Gefährlich ist es aber trotzdem. Es ist nämlich so, wie in Eis einzubrechen. Wenn das Wasser tief genug ist, kann man sich nicht selbst befreien, weil der weiche Rand immer weiter abbricht.«
Enzo hob ungläubig die Augenbrauen. »Durch was soll man da sterben, solange die Nase über Wasser ist und man atmen kann? Durch die Feuchtigkeit?«
Ingo schüttelte den Kopf. »Nein. Moor ist ein Gewässer, das mit Pflanzen überwuchert ist. Das Wasser darunter kann unter 8 Grad kalt sein. Wenn man sich nicht rechtzeitig befreien kann, wird man in kurzer Zeit erfrieren.«
»Das klingt sehr gruselig«, schauderte Georg.
»Das ist es bestimmt auch«, war Lisa mit ihm einer Meinung.
Die Limousine fuhr rasant über den Feldweg in Richtung Kelso. Dabei hörte man, wie kleine Steine hochsprangen und ans Auto prasselten. Bald fuhren sie an Weiden und Wiesen vorbei auf denen Schafe und Rinder grasten. In der Ferne an der Küste konnte man einen Leuchtturm sehen, dessen gleißendes Licht ständig aufblitzte.
Die Landschaft wurde karger und färbte sich braun, was auf eine öde Moorlandschaft hinwies. Es bildete sich ein nebliger Dunst. Je näher sie Kelso kamen, desto dichter wurde der Nebelschleier, der sich tiefgrau über die Moorebene legte. Nach einer Stunde und sechs Minuten näherten sie sich dem Schloss, das durch die unheimliche Nebelwand wie ein Geisterschloss aus dem Nichts auftauchte. Bei dem Gedanken, dass es darin auch noch spuken sollte, wäre Lisa beim Anblick dieser schaurigen Kulisse, die sich ihr nun bot, am liebsten sofort wieder abgereist.
Als wenn Georg ihre Gedanken gelesen hätte, fragte er: »Was denken Sie über den Spuk, Mister Carson?«
»Es ist der verstorbene Schlossherr, der nicht zur Ruhe kommt«, antwortete der Mann mit versteinerter Miene.
Enzo lachte laut. »Das glauben Sie doch selbst nicht, Mister?!«
Doch wie ernst Mister Carson das meinte, zeigte seine finstere Miene, die bei den Kindern ein unbehagliches Gefühl auslöste.


*****

Schloss Floor Castle

Die Kinder stiegen aus dem Wagen und starrten auf das rotbraune Gebäude mit den Spitzdächern und den Türmen, die majestätisch die Front des Schlosses zierten. An der großen, hölzernen Eingangstür stand eine Frau, Mitte 20. Ihr knöchellanges, schwarzes Kleid, ihre weiße Bluse und die darüberliegende weiße Kittelschürze ließen erkennen, dass es sich um eine Dienstmagd handelte. Sie erblickte die Kinder und sofort stahl sich ein Lächeln auf ihr rundes Gesicht.
Schnurstracks kam sie den Gästen entgegen. »Hallo, Kinder. Ich bin die Haushälterin Misses Darnell. Herzlich willkommen auf Floor Castle, ich habe euch erwartet und werde euch gleich in euer Zimmer bringen.«
»Hallo, Misses Darnell«, grüßten die Kinder gleichzeitig und folgten der Frau nach drinnen.
Mister Carson lud das Gepäck aus und folgte ihnen. Sie liefen über den kalten, braunen Marmorfußboden der Eingangshalle zur Steintreppe, an deren beiden Seiten je eine Ritterrüstung stand. Ein verchromter Handlauf führte entlang der Treppe nach oben, wo eine dicke silberne Kugel den Abschluss des Geländers bildete. Der matte, rötliche Steinboden und der lange Korridor erinnerten eher an einen Kerker oder an eine Ritterburg als an ein zauberhaftes Schloss. Dennoch sah es so interessant und geheimnisvoll aus, dass die Kinder fasziniert waren und sich wahnsinnig auf die Herbstferien freuten, die sie nun in diesem Schloss verbringen durften.
»Die Schlossherrin Misses Summer wird euch nachher begrüßen«, erklärte die Bedienstete Misses Darnell und stieß eine der massiven Holztüren auf. »Ich muss mich noch in der Küche nützlich machen. Später komme ich euch abholen, um euch die Räumlichkeiten des Schlosses zu zeigen. Leider habe ich heute einen stressigen Tag, weil gestern Abend ein Reisebus mit Gästen aus Deutschland angekommen war.«
Georg winkte großzügig ab. »Das ist nicht nötig, Misses Darnell. Wir schauen uns selbst im Schloss um.«
»Ja.« stimmte Ingo zu. »Wir werden mit Sicherheit alle Räume finden.«
»Besonders den Speiseraum«, fügte Enzo lachend hinzu.
»Oh, ich weiß nicht, ob ich das darf«, wurde die Haushälterin unsicher. »Schließlich hat mich Misses Summer damit beauftragt, euch alles zu zeigen?!«
»Das ist kein Problem«, versicherte Georg. »Falls Sie deswegen Schwierigkeiten bekommen sollten, klären wir das mit der Schlossherrin ab.«
»Dankeschön, Kinder. Ich werde mich revanchieren«, versprach Misses Darnell mit dankbarem Blick.
Im selben Moment kam Mister Carson herein und stellte das Gepäck vor dem Kleiderschrank ab. »Ich wünsche euch einen schönen Aufenthalt. Hoffentlich habt ihr keine Angst vor echten Geistern.« Mit lauten Schritten verließ er den Raum.
Lisa schaute die Jungs entsetzt an. »Habt ihr das gehört?«
Ingo lachte. »Mach dir keine Gedanken, der Mann ist eben ein Spaßvogel.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, antwortete Lisa erleichtert.
»Natürlich hat er recht«, bekräftigte Georg. »Er wird doch wohl nicht ernsthaft an Geister glauben.«
Wie hypnotisiert sahen sich die Kinder in dem Raum mit den roten Sandsteinwänden und den hohen mit Balken überzogenen Decken um. In der Mitte des Raumes stand ein großes Bett, neben dem offenen Kamin stand eine altmodische Couchgarnitur, die aussah wie aus Großmutters Zeiten. An der hinteren Wand befanden sich zwei Türen.
Enzo öffnete eine der Türen und blickte in den weiß gefliesten Raum. »Das ist das Badezimmer.« Er drehte sich um und erblickte Lisas grimmigen Gesichtsausdruck. »Was hast du, Lisa? Gefällt es dir nicht?«
»Ich werde auf keinen Fall mit euch in einem Zimmer schlafen«, knurrte sie und öffnete die andere Tür, die sie gleich wieder zuschlug.
»Was ist? Warum hast du die Tür wieder geschlossen?«, wunderte sich Georg.
»Das ist eine Zwischentür«, sagte Lisa. »Da geht es zu einem anderen Zimmer.«
»Und?«, reagierte Ingo gleichgültig. »Lass uns mal reinsehen!«
»Meint ihr, das Zimmer gehört zu unserer Suite dazu?«, war Lisa unsicher.
»Wäre die Tür sonst unverschlossen?«, fragte Enzo, öffnete die Tür und trat ein. Georg, Ingo und Lisa folgten ihm zögerlich.
Dieser Raum war ebenfalls mit einem großen Bett und einem Kamin ausgestattet. Er verfügte ebenso über ein eigenes Badezimmer.
Ingo zeigte zufrieden lächelnd an den Sandsteinwänden entlang. »Na bitte. Zu diesem Zimmer gibt es keine weiteren Türen. Der einzige Zugang besteht also über die Zwischentür des Vorzimmers. Folglich gehört der Raum zu unserem Zimmer.«
Lisa atmete auf. »Hurra! Ich habe mein eigenes Zimmer in einem Schloss.«
»Da bin ich aber froh, dass du zufrieden bist«, lachte Ingo. »Ich schlage vor, wir machen uns erst einmal frisch und packen unsere Koffer aus.«
Lisa holte ihren Koffer aus dem Zimmer der Jungs, stellte ihn vorm Kleiderschrank ab und schloss die Zwischentür. Zufrieden schaute sie sich im Zimmer um und blickte aus dem vergitterten Fenster über den Schlosspark, dessen Baumkronen aus dem dichten Nebel emporragten. Der Himmel war immer noch voller Wolken und durch die feuchte Luft waren die Fensterscheiben beschlagen. Die graue Landschaft wirkte unheimlich aber ebenso faszinierend. Lisa packte die Gläser mit den Oliven und den Essiggürkchen sowie die Fruchtsäfte, die Milch und die Dosen mit den Leberwurststullen aus und stellte den Proviant zum Kühlen nach draußen auf die Fensterbank. Danach kniete sie sich auf den kalten Steinfußboden vor ihren Koffer und zog sich frische Wäsche zum Wechseln heraus. Sie ging ins Badezimmer und nahm erst einmal eine heiße, entspannende Dusche, wobei sie vergnügt eine Melodie summte.
Kurze Zeit danach kehrte sie in ihr Zimmer zurück und zuckte vor Schreck zusammen. Ihr Koffer lag offen und leer vor dem Kleiderschrank und die gesamte Wäsche lag durcheinander auf dem Bett verteilt.
»Mensch«, fauchte sie wütend und stürmte ins Nebenzimmer zu den Jungs, die erschraken, als sie ungehalten die Tür aufriss. »Kann mir einer von euch erklären, was das soll? Warst du das, Enzo?«
»Was? Wovon redest du?«, war Enzo verdutzt.
»Ihr wisst genau, wovon ich rede«, knurrte Lisa. »Habt ihr mal daran gedacht, dass jetzt meine ganze Wäsche zerknittert ist?«
»Warum ist deine Wäsche zerknittert?«, fragte Georg verwundert. »Was ist geschehen?«
»Kannst du uns mal bitte aufklären?«, bat Ingo ernst. »Wir wissen wirklich nicht, wovon du da redest.«
Lisa jagte ein kalter Schauer über den Rücken. »Ihr wolltet mich doch reinlegen, und habt meine Wäsche aus dem Koffer genommen und auf mein Bett geworfen?!«
Georg, Ingo und Enzo eilten in Lisas Zimmer und schauten sich den Wäschehaufen auf dem Bett an. »Wie ist das passiert?«
»Bitte sagt mir, dass ihr das wart«, flehte Lisa mit zitternder Stimme.
»Da müssen wir dich leider enttäuschen. Wir haben mit der Sache nichts zu tun«, beteuerte Ingo.
»Wir haben dein Zimmer nicht betreten und waren die ganze Zeit damit beschäftigt, unsere Sachen auszupacken«, erklärte Georg.
»Ihr … ihr hättet doch sehen müssen, wie jemand durch euer Zimmer gekommen ist?«, quietschte Lisa aufgeregt. »Schließlich gibt es keinen anderen Zugang zu meinem Zimmer.«
»Müssten wir«, gestand Enzo. »Es ist aber niemand durch unser Zimmer gekommen.«
Ingo zog einen Kugelschreiber aus seiner Hosentasche, lief an den Wänden entlang und klopfte sie ab. »Es muss einen geheimen Zugang zum Zimmer geben«, kommentierte er.
Lisa kramte drei Buntstifte aus ihrem Rucksack und reichte Enzo und Georg jeweils einen Stift. »Kommt, Leute. Wir müssen einen Zugang finden.«
Dann liefen sie ebenfalls klopfend an den Wänden entlang, um nach einer hohlen Stelle zu suchen. Wenig später war die Suche abgeschlossen. Ohne jeglichen Erfolg.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie der Kerl ins Zimmer gekommen sein kann«, bemerkte Enzo, worauf alle Augen auf ihn gerichtet waren.
»Wie?«, fragten Lisa, Ingo und Georg wie aus einem Mund.
»Es handelt sich um einen echten Geist, der durch Wände gehen kann«, antwortete Enzo schmunzelnd.
Dafür erhielt er von Lisa einen Schlag auf den Oberarm. »Die Sache ist ernst. Hör auf, uns an der Nase herumzuführen!«
Wie auf Kommando gingen die Kinder nach drüben ins Nebenzimmer und setzten sich auf die Couch. Ingo kniete sich mit Kugelschreiber und Notizblock vor den Tisch, auf dem er wenige Minuten zuvor die mitgebrachten saftig roten Äpfel bereitgestellt hatte. »Wo befandest du dich, als das passiert war?«
»Ich war gerade im Badezimmer«, erzählte Lisa.
Ingo machte Notizen auf seinem Block. »Daraus ergeben sich einige Fragen. A: Woher wusste der Täter, dass sich Lisa gerade im Badezimmer befand? B: Wie ist er ins Zimmer gekommen, ohne dass wir ihn sehen konnten? C: Welches Ziel verfolgte er damit, Lisas Wäsche aufs Bett zu werfen?«
Georg räusperte sich. »A: Der Täter muss Lisa beobachtet haben, sonst hätte er nicht gewusst, dass sie sich im Badezimmer befindet, und er ungestört ihren Koffer ausräumen kann.«
»Und B: Wir sahen ihn nicht, weil es noch einen anderen Weg in Lisas Zimmer geben muss«, mutmaßte Enzo.
»Um die Frage C zu beantworten«, sagte Lisa. »Er warf meine Wäsche aufs Bett, um uns zu verängstigen, in der Hoffnung, dass wir Hals über Kopf abreisen werden.«
Ingo rückte seine Brille zurecht. »Wenn der Täter Lisa beobachtet hat, sollten wir das Schlafzimmer und das Badezimmer nach Kameras absuchen. Wenn er uns einschüchtern und zum Abreisen bewegen wollte, weiß er anscheinend, wer wir sind.«
»Vielleicht sind wir ihm bereits begegnet?«, meinte Enzo.
»Mister Carson«, fügte Lisa hinzu.
»Oder die Haushälterin Misses Darnell«, warf Georg ein.
Ingo kratzte sich nachdenklich an der Stirn. »Nehmen wir an, es wäre Misses Darnell. Entweder wird sie von jemand erpresst oder bei dem Spuk handelt es sich um einen Freundschaftsdienst eines Konkurrenten vom Schlosshotel.«
»Das sind stichhaltige Argumente«, stimmte Enzo zu. »Der Hausdiener Mister Carson könnte die gleichen Motive haben.«
»Moment mal«, zweifelte Georg. »Wenn es dem Täter gelingt, die Hotelgäste mit dem Spuk fernzuhalten, wird das Schlosshotel für immer schließen müssen. Wenn es sich bei den Tätern um Misses Darnell oder Mister Carson handelt, würden sie ja ihren Arbeitsplatz verlieren?! Würden sie sich damit nicht ein Eigentor schießen?«
»Ja, das macht wenig Sinn«, gab Ingo zu. »Weshalb sollten sie ihren eigenen Arbeitsplatz riskieren? Vielleicht handelt es sich doch um eine Erpressung?«
»Wie wäre es mit Versicherungsbetrug«, hakte Enzo nach.
»Versicherungsbetrug?«, fragten Lisa, Georg und Ingo gleichzeitig.
»Ja«, antwortete Enzo. »Wenn die Täterin die Schlossherrin Misses Summer ist, könnte das Motiv Versicherungsbetrug sein. Vielleicht hat sie sich gegen Gästemangel und Umsatzeinbrüche versichert?«
Lisa winkte ab. »Das sind zwar alles handfeste Motive, aber momentan interessiert mich nur, ob in meinem Zimmer Kameras installiert sind und wie der Täter oder die Täterin in mein Zimmer gelangen konnte.«
»Das interessiert mich auch«, meinte Ingo. »Wir suchen noch mal die Wände nach Hohlräumen und versteckten Kameras ab.«
Plötzlich klopfte es an der Tür. Alle erschraken und schauten sich stumm an.
»Ich geh schon«, meldete sich Georg freiwillig und öffnete die Tür.
»Hallo, Kinder. Ich bin Misses Summer«, stellte sich eine ältere, hagere Dame im dunkelblauen Kleid vor. Ihr graues, hochgestecktes Haar sah so festlich aus, als wenn sie gerade zu einer Hochzeit gehen wollte.
»Hallo, Misses Summer. Vielen Dank für die Einladung. Wir werden unser Bestes geben, den Fall zu lösen und den Täter zu überführen«, sprach Ingo für alle.
Misses Summer schüttelte fassungslos den Kopf. »Das mit dem Spuk ist wirklich furchtbar. Es passieren sehr eigenartige Dinge. Gäste, die das erlebt haben, reisen überstürzt ab und kommen nicht wieder. Der Spuk spricht sich sehr schnell rum und wird mittlerweile sogar in der Presse erwähnt. Wenn das so weitergeht, kann ich das Schlosshotel bald schließen.«
Die Frau klang so verzweifelt, dass es Lisa fast das Herz brach. »Wir werden den Täter schnappen«, versprach sie, nur um die Schlossherrin zu trösten.
»Seit wann spukt es in Ihrem Schloss?«, erkundigte sich Ingo nur noch mal zur Sicherheit.
»Erst seit wenigen Monaten. Wenn mein Mann vor zwei Jahren nicht verstorben wäre, hätte er es gewiss schon aufgeklärt«, klagte Misses Summer, worauf sich bei den Kindern die Haare aufstellten. Wollte sie etwa andeuten, der Schlossherr würde ruhelos im Schloss umherspuken?
»Was glauben Sie, könnte das sein?«, vergewisserte sich Enzo vorsichtig.
Misses Summer zuckte mit den Achseln. »Jemand vom Personal?«
Die Kinderdetektive waren erleichtert. Wenigstens behauptete die Schlossherrin nicht wie der Hausdiener, dass es sich bei dem Geist um den verstorbenen Schlossherrn handeln könnte.
»Können Sie sich vorstellen, warum das Personal Ihnen das antun sollte?«, hakte Georg nach.
Misses Summer schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Ich war immer eine gute Arbeitgeberin und bin immer höflich und zuvorkommend zu meinem Personal.«
»Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir eine heiße Spur haben«, versprach Ingo.
»Ich hoffe, bald von euch zu hören«, verabschiedete sich Misses Summer und verschwand mit kleinen, schnellen Schritten über den Flur.
Lisa sah ihr mitleidig hinterher. »Hiermit wäre die Schlossherrin außer Verdacht.«
»Aber nur vorerst«, meinte Ingo.
»Wollen wir nicht mal nachsehen, wo sich der Speisesaal befindet und erst einmal eine Kleinigkeit essen?«, jammerte Enzo, der schon wieder einen Bärenhunger verspürte.
Ingo reichte ihm einen Müsliriegel. »Erst untersuchen wir Lisas Zimmer nach Kameras und Geheimgängen.«
Etwa 40 Minuten später hatte das Team Lisas Zimmer und Badezimmer nach Kameras und Geheimtüren durchsucht. Erneut ohne Erfolg. Es war und blieb rätselhaft, wie sich der Täter ins Zimmer schleichen konnte, um eine solche boshafte Tat zu vollbringen.
»Na klasse. Wir haben nichts gefunden«, ärgerte sich Lisa. »Ich werde in diesem Zimmer kein Auge zumachen, solange das nicht geklärt ist.«
»Das sollst du auch nicht«, meinte Ingo. »Wir sind schließlich nicht zum Schlafen hergekommen. Wir werden nachts die Augen offenhalten.«
»Exakt«, stimmte Georg zu. »Wenn der Spuk aufgeklärt ist, können wir noch genug schlafen.«
»Wollten wir nicht den Speisesaal aufsuchen?«, erinnerte Enzo.
Umgehend bekam er von Lisa einen Fausthieb auf den Oberarm. »Wie kannst du jetzt ans Essen denken?«, warf sie ihm vor.
Enzos Miene verfinsterte sich. »Du bist witzig. Sollen wir vielleicht verhungern, nur weil jemand deinen Koffer leer geräumt und deine Wäsche zerknittert hat?«
Ingo und Georg lachten. »Enzo hat recht. Wir gehen erst einmal essen«, schloss sich Ingo Enzos Idee an.
Das Team stapfte die Steintreppe nach unten, folgte der Geräuschkulisse von Stimmengewirr und kam in den Speisesaal, in dem sich viele Menschen tummelten. Einige standen am Büfett und andere saßen an den Tischen. An den Anzügen und Aktentaschen erkannte man, dass es sich hauptsächlich um Geschäftsleute anstatt um Touristen handeln musste.
»Das dürften die Gäste aus dem Reisebus sein, den Misses Darnell erwähnt hatte«, flüsterte Ingo und schaute sich in dem großen Saal um.
Hier waren die Wände weiß und mit dicken, verschnörkelten Gipsprofilen und düsteren, goldumrahmten Gemälden verziert. Die hohe Decke bestand aus schweren Holztafeln, die ebenfalls Profile aufwiesen. Die Form der Stühle, die sich um die Tische reihten, war geschwungen. Es sah eben aus, wie in einem schmucken Schloss. Alles war übertrieben prachtvoll und wirkte wirklich sehr teuer und edel. Die silbernen Kerzenleuchter mit den elfenbeinfarbenen Kerzen auf den weißen Tischdecken schienen antik zu sein.
Unauffällig gingen die Kinder zum Büfett und betrachteten die Speisen, die dort aufgetischt waren. Erst als sich die Menschenmenge lichtete, bemerkten sie Misses Darnell, die neben dem Tisch bereitstand.
Lisa zeigte auf die Fleischklöße. »Sind das Frikadellen?«
»Das sind schottische Eier«, erklärte Misses Darnell. »Es sind Frikadellen, in denen ein gekochtes Ei eingebacken wurde.«
Lisa zeigte auf die Speise daneben. »Was ist das da?«
»Schottischer Crumpet«, antwortete Misses Darnell. »Das ist ein süßer Pfannkuchen, der einseitig gebacken wurde. Darum ist eine Seite hell und die andere Seite dunkel.« Misses Darnell zeigte auf das Backwerk daneben. »Das ist Shortbread und heißt so viel wie süßes Brot. Es sind Riegel aus Mürbeteig.«
»Das wäre eher was für den Nachtisch«, meinte Ingo.
»Zum Trinken gibt es Schwarztee, Mineralwasser, Orangensaft, süße Limonaden und Irn-Bru«, teilte die Haushälterin mit.
»Was ist Irn-Bru?«, wurde Enzo neugierig.
»Irn-Bru ist ein koffeinhaltiger Softdrink, der in Schottland beliebter als Coca Cola ist. Was genau drin ist, weiß niemand, denn die Zutaten sind streng geheim.«
»Koffeinhaltige Getränke oder gesüßte Erfrischungsgetränke wie Limonade sind nicht unser Fall«, offenbarte Georg. »Das ist nicht gut für den Stoffwechsel. Davon wird man hungrig, übergewichtig und müde.«
»Ja«, war Ingo derselben Meinung. »Wir werden nur Tee, Mineralwasser oder Fruchtsäfte trinken.«
»Was sollen wir jetzt essen?«, fragte Lisa. »Habt ihr euch schon entschieden?«
Misses Darnell zeigte erneut aufs Büfett. »Haferflocken oder Fisch und Chips sind bei uns in Schottland sehr beliebt.«
»Fisch und Chips?« Enzo begutachtete die frittierten, länglichen Kartoffelstücke auf dem großen silbernen Tablett.
So setzten sich die Kinder an einen freien Tisch in der Ecke und aßen Fisch mit frittierten Kartoffelstücken. Dazu tranken sie Mineralwasser. Mit der Zeit wurden die Geschäftsleute immer lauter, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte.
»Nach dem Essen werden wir uns das Schloss ansehen«, schlug Ingo vor.
»Klar«, willigte Enzo ein. »Ich freue mich schon darauf.«
»Vielleicht haben die Pferde«, hoffte Lisa. »Wir könnten Reitausflüge machen, falls es uns die Schlossherrin erlaubt.«
»Am meisten interessieren mich die Kellerräume«, erwähnte Georg. »Die sind immer so schön gruselig und geheimnisvoll.«
Bald hatten sie aufgegessen und machten sich auf den Weg, das Schloss zu erkunden.


*****

Erkundung des Schlosses

Die Kinderdetektive liefen neugierig durch die dunklen Gänge des Schlosses. Elektrische Lampen, die wie Kerzenhalter aussahen, zierten die rötlichen Sandsteinmauern und warfen in die fensterlosen Korridore ein geheimnisvolles Licht. Alle zehn Meter wechselte der Gang in eine andere Richtung. An diesen Abbiegungen war immer eine Ritterrüstung platziert. Lisa hatte ständig das unheimliche Gefühl, die Rüstung würde sich bewegen oder ihr hinterherschauen. In jedem Korridor reihte sich Zimmertür an Zimmertür.
Erneut passierten die Kinder eine Abbiegung, als sie plötzlich ein Stöhnen hörten und stehen blieben. »Bitte haben Sie Gnade mit mir, Mister Grimm«, flehte eine Männerstimme.
»Gnade war gestern, Herr Braun«, antwortete eine andere Männerstimme lachend.
Man hörte ein dumpfes, metallenes Geräusch und Sekunden danach das Stöhnen von Herrn Braun. Erschrocken sahen sich die Kinder an.
»Was sollen wir tun?«, flüsterte Enzo entsetzt und starrte nach vorne zur halb geöffneten Tür, aus der die Stimmen kamen.
»Wir müssen Herrn Braun helfen«, beschloss Georg und stürmte gefolgt von Lisa, Enzo und Ingo voran in den Raum.
»Ihr Spiel ist aus, lassen …«, rief Georg aufgebracht, brach mitten im Satz ab und schluckte.
»Meine Güte …«, stutzte Ingo und starrte die trainierenden Menschen auf den Fitnessgeräten an. »Das ist ein Fitnessraum.«
Der dunkelhaarige Fitnesstrainer Mister Grimm, der dem molligen Herrn Braun gerade neue Gewichte in das Trainingsgerät eingelegt hatte, schaute die Kinder wütend an. »Spielt woanders, Kinder. Ihr habt uns zu Tode erschreckt!«
»Raus da! Spielt draußen oder im Spieleraum«, brüllte ein anderer Mann, der gerade auf einem Laufband joggte.
»Ein Spieleraum?«, wiederholte Enzo.
»Genau. Das Fitnessstudio ist nichts für Kinder«, waren sich alle Männer einig.
»Ist ja schon gut. Es tut uns leid«, gab sich Ingo geschlagen und verließ zusammen mit Lisa, Georg und Enzo den Raum.
»Solche undankbaren Rüpel«, beschwerte sich Georg.
»Die sind aber ganz schön erschrocken, als wir da reingeplatzt sind«, lachte Lisa amüsiert.
»Ja, das mühsame Training hätten sie sich sparen können, die sind alleine vom Schreck ins Schwitzen gekommen«, scherzte Enzo, worauf Lisa, Georg und Ingo lauthals lachten.
Einige Gänge weiter fanden sie den erwähnten Spieleraum. Es war ein großer Saal voller Spielsachen und Spielgeräte. Es waren sogar eine Tischtennisplatte, eine Schaukel, eine Rutschbahn und ein schönes buntes Kinderkarussell vorhanden. Das Einzige was fehlte, waren Kinder und deshalb wirkte der große menschenleere Raum geisterhaft.
»Das ist aber schade«, bedauerte Lisa. »So viele Spielsachen und keiner ist da, der sie benutzen könnte.«
»Das ist leider nachvollziehbar«, meinte Enzo. »Denn welches Kind will seine Ferien in einem Spukschloss verbringen?«
Das Team erkundete weiter und kam bald in ein Hallenbad. Einige Gäste schwammen in dem großen Becken umher und andere lagen auf den Liegestühlen, welche den Pool umsäumten. Die Luft war feucht und roch nach Chlor. Durch eine riesige Fensterfront sah man draußen die Bäume. An den Zweigen mit den gelben Blättern, die von außen über das Glas wischten, erkannte man, wie stürmisch es inzwischen geworden war.
»Klasse. Ein Hallenbad«, freute sich Lisa.
»Das werden wunderschöne Herbstferien«, war Enzo sicher.
»Wir sollten so schnell wie möglich den Spuk aufklären, um danach unsere Ferien genießen zu können, Leute«, drängte Georg voller Vorfreude.
»Das tun wir«, war Ingo zuversichtlich.
Die Kinder setzten ihre Besichtigung in den oberen Etagen fort. Oben gab es wie unten ebenso verwinkelte Korridore mit unzähligen Türen und an jeder Abzweigung eine glänzende Ritterrüstung.
Als die Kinder auf ihr Zimmer kamen, war es bereits Nachmittag. Sie aßen ihre Wurstbrote mit Essiggürkchen, tranken dazu Traubensaft und zum Nachtisch gab es ein Stück des mitgebrachten, herrlich duftenden Zitronenkuchens. Nach dem Imbiss zogen sie sich dicke Wollpullover über und setzten ihre Erkundungstour im Außenbereich des Schlosses fort.
Ein unangenehm kühler Sturm rauschte durch die Bäume und wirbelte trockenes Laub durch die Luft, überall rauschte, knarrte und knackte es. Durch den dicht bewölkten Himmel war es dunkel wie in der Abenddämmerung.
»Brr, ist das kalt«, klagte Lisa fröstelnd und verschränkte schützend die Arme vor dem Körper. »Alle Gäste sind im warmen Schloss, nur wir laufen hier draußen rum.«
Die Jungen steckten ihre Hände in die Hosentaschen.
»Es ist nicht kalt. Das kommt dir nur so vor, weil du nichts auf den Rippen hast«, neckte Enzo, dessen Augen vom kalten Wind tränten.
»Dafür schwitzt du schneller. Du musst nur das Wort <Sonne> hören, dann läuft dir der Schweiß aus allen Ritzen«, erwiderte Lisa scherzhaft.
Zuerst liefen die Kinder ums Schloss herum und begutachteten die Fassade. Dabei fielen ihnen die Kellerfenster auf.
»Wir sollten uns nachher dringend die Kellerräume ansehen«, stellte Ingo klar.
»Vorher gehen wir aber zum Abendessen in den Speisesaal«, forderte Enzo.
»Bis wir uns den Schlosspark angesehen und zu Abend gegessen haben, ist es bereits dunkel?«, erinnerte Lisa.
»Und?«, wunderte sich Georg. »Wo liegt das Problem?«
Lisa runzelte die Stirn. »Müssen wir uns ausgerechnet im Dunkeln den Keller eines Spukschlosses ansehen?«
»Du hast doch nicht etwa Angst vor Geistern?«, fragte Georg erheitert.
»Ich?« Lisa lachte verlegen. »Unsinn. Es gibt keine Geister.«
»Mister Carson hat aber erzählt, es wäre der Schlossherr, der im Schloss sein Unwesen treibt«, erinnerte Enzo lachend.
Lisa lachte laut. »Mister Carson ist ein Scherzkeks. Er wollte uns nur verängstigen.«
»Mister Carson wollte uns Angst machen«, wiederholte Ingo. »He, das ist ein Stichwort. Welches Motiv hat er dafür?«
Alle starrten sich an. »Er ist der Täter?!«, riefen sie gleichzeitig.
»Bingo! Er muss der Täter sein«, erklärte Ingo. »Warum sollte er uns sonst verängstigen wollen?«
»Vielleicht macht es ihm einfach nur Spaß?«, zweifelte Lisa den Verdacht an.
»Ja, solche Menschen gibt es«, stimmte Georg seiner Schwester zu.
Ingo nickte. »Es könnte auch sein, dass Mister Carson nicht ganz bei Sinnen ist und selbst glaubt, der Schlossherr würde spuken.«
»Wir könnten es herausfinden, indem wir Mister Carson einen Spuk spielen. Wenn er der Täter ist, müssten wir es an seiner Reaktion bemerken?!«, kam Enzo die Idee.
»Die Idee ist gut. Enzo. Ich glaube, die schottische Luft ist gut für dich«, lobte Ingo. »Falls Mister Carson der vermeintliche Geist ist und es ohne sein Zutun spuken würde, würde er sich sehr erschrecken. Vielleicht würde er denken, der Geist des Schlossherrn würde sich an ihm rächen wollen.«
Lisa kicherte. »Wir sind eingeladen worden, einen Spuk aufzuklären und werden nun selbst zu Gespenstern.«
»Wie werden wir das anstellen?«, konnte Georg es gar nicht mehr abwarten.
Ingo überlegte, während sie im tosenden Wind durch den Schlosspark schlenderten. »Wir sehen uns nachher den Keller an. Vielleicht führen von dort aus Lüftungsschächte zu den Zimmern.«
»Du meinst, wir werden Geisterstimmen über die Schächte machen?«, folgerte Lisa.
»Tolle Idee«, erwiderte Georg motiviert. »Was könnten wir sonst über einen Luftschacht machen?«
»Ich könnte Tierstimmen nachahmen«, bot Enzo an.
Georg lachte. »Ja, wenn in der Nacht plötzlich ein Löwe in Mister Carsons Zimmer brüllt, erschreckt er sich bestimmt fürchterlich.«
Lisa schaute die Jungen kritisch an. »Sollen wir das wirklich tun? Habt ihr euch das gut überlegt?«
Enzo hob verwundert die Augenbrauen. »Warum nicht? Was spricht dagegen?«
»Was machen wir, wenn der Mann vor Schreck ohnmächtig wird?«, haderte Lisa.
»Dann wissen wir wenigstens, dass er der Täter ist«, stellte Ingo klar.
»Wenn er nicht der Täter ist, könnte er sich aber trotzdem erschrecken«, gab Enzo zu bedenken.
»Er kennt aber den Spuk und hat bestimmt schon einiges im Schloss erlebt. So schnell kann ihn garantiert nichts mehr erschrecken, außer, er ist der Täter«, entgegnete Georg.
»Wenn das so wäre, hätte er es verdient«, schloss sich Lisa der Idee an.
»Ihr werdet es nicht glauben, Leute. Aber ich habe Hunger«, äußerte sich Enzo, worauf alle lachten.
Vom eisigen, feuchten Wind durchfroren, gingen die Kinder nach drinnen ins Warme. Der Schlossdiener Mister Carson stand in der Eingangshalle und beobachtete sie schweigend auf ihren Weg in Richtung Speisesaal.
»Hallo, Mister Carson«, grüßte Lisa.
Doch der Mann schien mit seinen Gedanken wo anders zu sein, denn er zeigte keinerlei Reaktion.
»Er hat es wirklich verdient, dass wir ihm einen Schrecken einjagen«, flüsterte Lisa schadenfroh.
Im Speisesaal angekommen, stellten sie sich in die Warteschlange am Büfett. Vor ihnen und hinter ihnen waren diese Geschäftsleute, die sich über ihre Köpfe hinweg laut unterhielten. Das hatte den Vorteil, dass sich das IGEL-Team ungestört unterhalten konnte, ohne befürchten zu müssen, von jemand belauscht zu werden.
»Wir sollten nachher herausfinden, wo Mister Carsons Zimmer liegt und nachsehen, wie er auf den Spuk reagiert«, bemerkte Georg, während er sich Kartoffelsalat und Würstchen auf den Teller legte.
»Wie sollen wir das anstellen?«, fragte Enzo und nahm sich eine doppelte Portion Kartoffelsalat und Würstchen auf den Teller.
»Wir warten, bis er zu Bett geht und schleichen ihm nach«, schlug Lisa vor und bediente sich ebenfalls am Büfett.
Ingo legte sich ebenfalls Kartoffelsalat und Würstchen auf den Teller. »Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit.«
Sie setzten sich wieder an ihren Tisch in der Ecke, von wo aus sie alles überblicken konnten.
Georg sah Ingo auffordernd an. »Welche andere Möglichkeit? Was schlägst du vor?«
»Wenn Mister Carsons Anzug schmutzig wäre, müsste er früher in sein Zimmer, um ihn zu wechseln«, antwortete Ingo grinsend.
Georg durchschaute Ingos Plan sofort, ein schelmisches Grinsen schlich sich auf seine Miene. »Okay, ich werde es tun. Ich nehme mir nachher ein Glas Milch mit. Während wir an Mister Carson vorbeilaufen, wird Enzo mir einen Stoß verpassen und schwups, wird die Milch bedauerlicherweise auf Mister Carsons Anzug landen.«
Enzo kicherte. »Das wird bestimmt lustig. Warum nehme ich nicht die Milch und du wirst mich anstoßen?«
Lisa konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und lachte. »Wir wollen dem Mann nur die Milch auf den Anzug kippen und ihn nicht umbringen.«
»Genau«, stimmten Georg und Ingo erheitert zu, worauf Enzo schmollte, was aber nur von kurzer Dauer war, weil er viel zu sehr mit seinem Essen beschäftigt war.
Nachdem sie aufgegessen hatten, nahm sich Georg ein Glas Milch vom Büfett und lief mit Enzo voraus in die Eingangshalle, wo Mister Carson die Kinder sofort mit ernster Miene ansah.
»Du bist dumm, Georg«, rief Enzo gespielt böse.
»Nein«, brummte Georg. »Du bist viel dümmer, Enzo.«
Als Georg und Enzo genau neben Mister Carson liefen, rief Enzo: »Ich bin dumm? Nimm das!« Dabei gab er Georg einen kräftigen Schubs. Georg ruderte mit den Armen und kippte die Milch auf Mister Carsons schwarzen Anzug.
»He, könnt ihr nicht aufpassen, ihr Rabauken? Was ist in euch gefahren?«, schrie der Schlossdiener erzürnt.
Über dieses wütende Auftreten erschraken sie so sehr, dass es ihnen zunächst die Sprache verschlug. Mister Carson lief verärgert in Richtung der Korridore.
Ingo machte eine ausladende Handbewegung. »Ihm nach.«
Das IGEL-Team folgte dem Mann unauffällig durch die Gänge. Als er in einem Zimmer verschwand, liefen sie weiter bis zur Zimmertür.
»Nummer 17«, flüsterte Ingo.
Plötzlich flog die Tür auf und Mister Carson stürzte heraus, dass alle erschraken.
»Was wollt ihr, warum seid ihr mir nachgelaufen?«
»Wir … äh … », stotterte Ingo. »Wir wollten Ihnen nur sagen, dass uns das mit der Milch sehr leidtut.«
Mister Carsons Miene entspannte sich augenblicklich. »Vergesst es einfach«, sagte er im ruhigen Ton. »Kommt mir am besten nicht mehr in die Quere und macht eure Arbeit, für die ihr eingeladen wurdet. Misses Summer setzt sehr viel Hoffnung in euch.«
»Das machen wir, Sie müssen uns nicht darauf hinweisen«, zischte Georg gereizt.
Der Hausdiener verschwand in sein Zimmer. Die Kinder nutzten die Gelegenheit, in ihr Zimmer zu gehen, die Taschenlampen zu holen und den Treppenabgang zum Keller aufzusuchen, der sich in der Eingangshalle befand.
Vorsichtig gingen sie die steilen Steinstufen zum dunklen Kellergewölbe hinab. Eine muffige, feuchte Luft schlug ihnen entgegen, während sie immer tiefer in die Dunkelheit hinabstiegen.
Lisa bemerkte Spinnweben an ihrem Kopf. »Pfui, da ist alles voller Spinnweben.«
Sie liefen weiter, bis Enzo auf einmal schrie: »Eine Schlange!«
Blitzschnell schwenkten alle Taschenlampen auf das Objekt am Rande der Treppe und Lisas leises Kichern ertönte. »Das ist ein simpler Schlauch, du Feigling.«
Enzo hob den armdicken, gelben Kunststoffschlauch an. »Ich bin kein Feigling, es hätte genauso gut eine Schlange sein können.«
Ein dumpfes Heulen fuhr ihnen durch Mark und Bein.
»Was war das für ein schreckliches Geräusch?«, quietschte Lisa.
»Das war nur der Wind, der sich in den Kellerfenstern fängt«, klärte Ingo auf.
»Jetzt bist aber du der Feigling«, konterte Enzo, was Lisa mit Schweigen bestrafte.
Unten am Fuße der Steintreppe angekommen, liefen sie über den weichen, erdigen Boden.
»Pass auf, Georg«, warnte Lisa ihren großen Bruder. »Die Decken sind ziemlich niedrig.«
»Danke, das habe ich schon bemerkt«, antwortete Georg, der wegen der geringen Deckenhöhe mit gesenktem Kopf gehen musste.
Im Lichtkegel von Ingos Taschenlampe erschien eine alte Holztür. »Das könnte der Heizraum sein«, vermutete er.
Damit lag er richtig, denn in dem Raum stand ein riesiger schwarzer Eisenofen, an den Wänden befanden sich die Öffnungen der Heizschächte, die nach oben zu den einzelnen Zimmern führten.
Ingo leuchtete die Schachtöffnungen ab und zeigte dann mit der Taschenlampe auf eine der Öffnungen. »Der Richtung nach könnte das der Schacht zu Mister Carsons Zimmer sein.«
»Das könnte stimmen«, meinte Georg.
Enzo streckte seinen Kopf in die Schachtöffnung. »Okay, wir wissen jetzt, wo ich heute Nacht hineinbrüllen muss. Lasst uns raufgehen.«
»Nicht so schnell«, widersprach Ingo. »Du willst doch wohl heute Nacht nicht das ganze Schloss aufwecken? Der Schacht ist bestimmt mit vielen anderen Räumen verbunden?!«
»Ach so, ja. Das kann natürlich sein. Hast du eine bessere Idee, Ingo?«, interessierte sich Georg.
Ingo grinste. »In der Tat. Wir könnten den gelben Schlauch in den Schacht einführen und ihn bis zu Mister Carsons Zimmer verlegen. Wenn Enzo heute Nacht in den Schlauch brüllt, kann man das nur in Mister Carsons Zimmer hören. So können wir auch sicher sein, dass wir mit unserem Spuk das richtige Zimmer erreichen.«
»He, das klingt gut«, war Georg begeistert. »So machen wir es.«
Lisa schaute ebenfalls in den Schacht. »Wenn ich mir die enge Schachtöffnung so ansehe, habe ich das Gefühl, den Schlauch müsste ich verlegen.«
»Ich denke, mit deinem Gefühl liegst du absolut richtig«, meinte Enzo.
Ingo leuchtete erneut auf die Öffnung. »Oh, ja«, tat er überrascht. »Tatsächlich kannst nur du das bewerkstelligen, Lisa. Von uns passt da sonst niemand hinein.«
»Lasst sie doch, wenn sie Angst hat«, neckte Enzo. »Wir lassen uns eben was anderes einfallen.«
»Ich habe keine Angst«, wehrte sich Lisa. »Wie kommst du nur immer auf solche absurde Gedanken?«
Doch, hatte sie, aber alleine aus dem Grund, dass Enzo sich daran erfreute, wollte Lisa unbedingt die Aufgabe erledigen, nur um ihm zu zeigen, wie sehr er sich in ihr getäuscht hat.
»Bringt mir den Schlauch!«, forderte Lisa und kroch in den Schacht hinein.
Georg eilte in den Flur, holte den Schlauch von der Treppe und reichte ihn Lisa. Sie klemmte sich das Schlauchende unter den Arm und kletterte vorsichtig hoch in die Richtung, aus der sie ein schwaches Licht vernahm. Oben angekommen, spähte sie durch die Gitterstäbe in einen Raum, in dem eine Nachttischlampe leuchtete. Sie war genau richtig, denn an der Schranktür hing einer von Mister Carsons Anzügen. Lisa schob das Schlauchende zwischen die Gitterabdeckung und glitt grazil wie eine Katze nach unten.
»Okay, geschafft. Es war tatsächlich sein Zimmer. Die Nachttischlampe brannte und ich habe Mister Carsons Anzug erkannt.«
»Gut gemacht«, lobte Ingo. »Wahrscheinlich war er gerade im Badezimmer. Jetzt lasst uns nach oben in unsere Zimmer gehen, bis wir heute Nacht zuschlagen werden.«


*****

Ein genialer Plan

Die Kinder saßen im Zimmer der Jungen am Couchtisch, aßen Äpfel und tranken Orangensaft.
Ingo nahm die Funkgeräte aus dem Schrank und legte sie auf den Tisch. »Lisa und Enzo gehen nachher in den Keller, während ich mich mit Georg im Flur auf Position begebe, um Mister Carsons Zimmertür zu bewachen«, erklärte er den Plan.
»Woran erkennen wir noch mal, ob Mister Carson schuldig ist?«, erkundigte sich Lisa sicherheitshalber.
»Ganz einfach«, erläuterte Ingo. »Wenn er den Spuk selbst verursacht hat, wird er vor Angst außer sich sein, wenn Enzo nachher losbrüllt. Ist er unschuldig, wird er sich ruhig verhalten, weil er ja inzwischen einiges an Spuk hier im Schloss erlebt haben muss.«
»Das klingt logisch«, war Enzo fasziniert.
»Wie geht es weiter, wenn wir nachher unsere Positionen bezogen haben?«, interessierte sich Georg.
Ingo rückte seine Brille gerade. »Wir geben Lisa und Enzo über Funk Bescheid, wann sie loslegen können. Falls Mister Carson vor Angst aus dem Zimmer rennt, fangen wir ihn ab und sagen ihm, wir hätten ihn überführt.«
Enzo stand auf und nahm sein Funkgerät vom Tisch. »Alles klar, worauf warten wir noch?«
Lisa, Georg und Ingo standen ebenfalls auf, nahmen ihre Funkgeräte und verließen das Zimmer. Im Korridor trennten sich ihre Wege. Enzo und Lisa schlugen den Weg in Richtung Keller ein, während Georg und Ingo zum Flur gingen, in dem sich Mister Carsons Zimmertür befand.
Lisa und Enzo schlichen sich durch die Empfangshalle, wo eine Frau an einem Schreibtisch saß und gerade in einem Buch blätterte. Von außen trieb der Wind den Regen an die Fensterscheiben, was ein lautes Prasseln verursachte, das den beiden gerade recht war. So konnte die Empfangsdame sie wenigstens nicht hören und dem Täter Bescheid sagen, falls sie in den Fall verwickelt wäre. Lisa und Enzo huschten durch die Kellertür und schlossen sie von innen.
Enzo, der die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, atmete tief durch. »Alles klar, sie hat uns nicht gesehen.«
Lisa leuchtete mit der Taschenlampe die Steintreppe in die Dunkelheit hinab. »Ich will jetzt nicht feige wirken, aber was ist, wenn sich unser Täter bereits da unten aufhält?«
Enzo runzelte die Stirn, was sein Unbehagen verriet. »Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand! Er ist bestimmt nicht da unten.«
»Ich stimme dir voll und ganz zu. Die Dame von der Rezeption hätte den Täter mit Sicherheit gesehen, wenn er in den Keller gegangen wäre«, versuchte Lisa, sich selbst zu beruhigen.
»Ach ja? So wie sie uns eben gesehen hat?«, machte sich Enzo lustig. »Wir wissen auch nicht, ob sie mit dem Täter unter einer Decke steckt?! Selbst, wenn sie ihn gesehen hätte, könnte er dann da unten sein.«
»Die Situation gefällt mir gar nicht«, fuhr Lisa ihn an. »Wie kannst du so ruhig bleiben, Enzo?«
»Na ja. Falls der Täter im Keller ist, werden wir bestimmt rechtzeitig den Lichtschein seiner Taschenlampe sehen und flüchten können«, erklärte Enzo.
»Stimmt. So weit hatte ich gar nicht gedacht«, fühlte Lisa sich nun sicherer.
Sie gingen die Stufen hinab und liefen durch den Flur mit dem erdigen Untergrund bis zum Heizraum.
Lisa fiel ein Stein vom Herzen, als sie den leeren Raum erblickte. »Wir haben Glück, es ist niemand hier.«
Sie gingen zum Schacht, Enzo nahm das Schlauchende und legte es sich ans Ohr. »Gut. Ich höre Geräusche. Mister Carson scheint in seinem Zimmer zu sein.«
Lisa nahm ihr Funkgerät. »Wir sind bereit, Leute. Mister Carson ist in seinem Zimmer.«
Ingo und Georg saßen eine Etage darüber neben einer Ritterrüstung in einer dunklen Ecke des Korridors und beobachteten die Zimmertür von Mister Carson.
»Okay. Legt los!«, forderte Ingo auf.
Enzo brüllte wie ein Löwe so laut in den Schlauch, dass man es oben im ganzen Korridor hören konnte. Georg und Ingo sahen sich an und schmunzelten.
Einige Sekunden vergingen, bis sich Enzo über das Funkgerät meldete: »Und? Hat er sein Zimmer verlassen?«
»Nein, leider nicht«, gab Georg Rückmeldung.
»Unser Mann ist anscheinend unschuldig, sonst wäre er jetzt aus dem Zimmer gerannt«, fügte Ingo enttäuscht hinzu.
»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Enzo wissen. »Unser schöner Plan ist offensichtlich fehlgeschlagen.«
»Kommt rauf, wir entwerfen für heute Nacht einen neuen Plan, um uns auf den bevorstehenden Spuk vorzubereiten«, teilte Ingo mit.

***

Wenig später saßen die Kinderdetektive zusammen auf der Couch in ihrem Zimmer und hörten Ingo aufmerksam zu, während er im Raum auf und ab lief und den Plan verkündete: »Georg beobachtet den Schlosseingang von draußen und Enzo bewacht unsere Zimmertür vom Korridor aus. Lisa und ich, wir werden unser Zimmer bewachen.« Er holte das Fernglas aus dem Schrank und übergab es Georg.
»Alles klar, Leute. Wenn ich was sehe, dann funke ich euch an«, sagte Georg und verließ das Zimmer.
Enzo rümpfte die Nase. »Und ich kann mich hinter die Ritterrüstung im Flur quetschen?«
»Bitte«, bat Ingo. »Außer, du möchtest hier drinnen sein, wenn der Spuk beginnt.«
»Ich …«, Enzo ging zur Tür. »Ich melde mich, falls ich etwas Ungewöhnliches sehe.« Er verließ den Raum.
»Wie sollen wir uns jetzt verhalten?«, bat Lisa um Anweisung.
»Wir löschen das Licht und warten ab, was passiert«, erklärte Ingo.
»Ich bin jetzt draußen«, meldete sich Georg über das Funkgerät. »Es regnet und stürmt, aber ich habe Schutz im Gebüsch gefunden und habe die Eingangstür im Auge.«
»Habe verstanden«, bestätigte Ingo.
»Und ich bin hinter der Ritterrüstung«, meldete sich Enzo gequält. »Mir schlafen jetzt schon die Füße ein in dieser unbequemen, gebückten Haltung.«
»Wir haben verstanden«, meldete Lisa zurück.
»Wir löschen jetzt das Licht«, erwähnte Ingo und knipste die Lampe aus.
Lisa und Ingo saßen im Dunkeln auf der Couch. Die Zeit verging und die nächsten 40 Minuten war es sehr still.
»Bist du noch wach, Ingo?«, vergewisserte sich Lisa mit zittriger Stimme.
»Natürlich bin ich wach«, flüsterte Ingo.
»Wie lange sollen wir warten?«, erkundigte sich Lisa.
»Das ist eine gute Frage«, antwortete Ingo. »Ich denke, wir sollten uns mindestens noch 2 Stunden gedulden.«
Die nächsten 20 Minuten war es still, bis plötzlich eine tiefe Männerstimme laut aufstöhnte. Lisa schrie auf, rannte zum Lichtschalter und knipste das Licht an.
»Hast du das gehört?«, quietschte sie mit schriller Stimme. »Da war jemand im Zimmer.«
»Bleib ruhig«, beruhigte Ingo. »Da war niemand im Zimmer, das kam wahrscheinlich über den Heizungsschacht.«
»Wer war das und warum tut er das?«, rief Lisa wütend mit überschlagender Stimme.
Ingo rief über sein Funkgerät Enzo und Georg zurück.
Erst kam Enzo ins Zimmer. »Bin ich froh. Ich hatte befürchtet, ich müsste die ganze Nacht da draußen versauern. Was ist passiert?«
»Warte noch, bis Georg hier ist«, bat Ingo.
Wenig später kam Georg hinzu. Seine Kleidung und seine Haare waren pitschnass. »Es regnet immer noch in Strömen«, erwähnte er beiläufig. »Was war geschehen?«
»Eine stöhnende Männerstimme. Es hat furchtbar geklungen«, klagte Lisa.
»Durch den Haupteingang war niemand ins Schloss gekommen«, versicherte Georg.
»Durch die Zimmertür ist ebenfalls niemand hineingegangen«, war Enzo überzeugt.
»Anscheinend kam die Stimme über den Heizungsschacht vom Keller«, mutmaßte Ingo.
Georg stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Wir hätten den Kellereingang bewachen sollen.«
»Das kann nur Mister Carson gewesen sein«, zischte Lisa.
»Oder die Haushälterin Misses Darnell«, widersprach Ingo.
Lisa warf Ingo einen kritischen Blick zu. »Hast du die Stimme nicht gehört? Das war eindeutig eine Männerstimme.«
»Selbstverständlich hatte ich es gehört«, antwortete Ingo überheblich grinsend. »Die Haushälterin kann die Stimme mit einem Tonband oder MP3-Player erzeugt haben.«
»Stimmt. Aber vielleicht kam auch jemand über den Hintereingang, den wir außer Acht gelassen hatten?«, vermutete Lisa.
Ingo blickte Georg nachdenklich an und schritt sofort zur Tür. »Kommt mit, Leute. Wir suchen im Keller nach Wasserflecken. Wenn jemand von draußen gekommen ist, muss er genauso nass wie Georg geworden sein.«
Lisa, Enzo und Georg folgten Ingo in Richtung Keller. In den Korridoren war aufgeregtes Stimmengewirr der Hotelgäste zu hören, in der Empfangshalle brannte Licht, aber die Rezeption war zu dieser späten Stunde bereits verlassen.
»Oje, die Hotelgäste sind durch das Stöhnen wach geworden«, meinte Enzo.
Das Team kam im Keller an und leuchtete den erdigen Boden mit den Taschenlampen ab.
»Nichts. Weder Pfützen noch Spuren. Unser Täter blieb vom Regenschauer verschont. Folglich muss er im Schloss wohnen«, vermutete Ingo.
»Das ist ein guter Anhaltspunkt«, äußerte sich Georg erfreut. »Das grenzt die Anzahl der Verdächtigen erheblich ein.«
Die Kinder gingen in ihr Zimmer und nach wenigen Sekunden nährten sich draußen im Flur schnelle Schritte.
»Ist bei euch alles in Ordnung, Kinder?«, hörten sie Misses Summers Stimme.
»Es ist die Schlossherrin«, kommentierte Enzo.
Ingo öffnete die Tür. »Danke, Misses Summer, bei uns ist alles in Ordnung.«
Misses Summer trug ein weißes Nachthemd. Mit ihrem langen, grauen Haaren ähnelte sie einem Gespenst. »Jede Nacht dasselbe«, beklagte sie sich. »Ich muss meine Gäste beruhigen, sonst reisen sie überstürzt ab.«
Ingo presste die Lippen zusammen. »Tut uns leid, dass wir noch nicht weiterhelfen konnten, aber wir sind bei der Arbeit und werden den Täter bald überführen, damit der Spuk ein Ende hat.«
»Danke, Kinder. Meine ganze Hoffnung liegt bei euch«, sagte sie betrübt.
Nachdem Misses Summer gegangen war, setzte sich das IGEL-Team an den Tisch.
»Misses Summer kommt mir unschuldig vor«, erwähnte Enzo. »Damit würde der Versicherungsbetrug ausscheiden.«
»Mir kommt sie auch unschuldig vor«, meinte Georg. »Die Frau ist einfach nur verzweifelt. Somit bleibt nur noch Haushälterin Misses Darnell als Verdächtige übrig, da wir Mister Carson mit unserer Spukaktion ausgeschlossen haben.«
»Wir werden morgen Vormittag Misses Darnell und Mister Carson befragen«, schlug Ingo vor.
»Aber war Mister Carson nicht bereits unschuldig, weil er auf Enzos Löwengebrüll nicht reagierte?«, wunderte sich Georg.
»Ja«, pflichtete Lisa bei. »Wir hatten ihn bereits aus dem Kreise der Verdächtigen ausgeschlossen.«
»Vielleicht ist er durch einen Geheimgang aus seinem Zimmer verschwunden und hat unseren inszenierten Spuk deshalb gar nicht mitbekommen?«, überlegte Ingo laut.
»Na toll«, raunte Lisa. »All unsere Mühen waren vergeblich und wir sind in der Sache noch keinen Schritt weitergekommen.«
Die Kinder gaben sich für diesen Tag geschlagen und gingen in die Betten. Trotz der großen Aufregung am Abend waren sie sehr müde und konnten schnell einschlafen.


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